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DIGITAL HEADING

Publiziert am von bs

Maximierte Effizienz, durch Arbeitsteilung
(Illustrativer Text zu bildnerischen Arbeiten)

Bevor Sie etwas sagen, lassen Sie mich die Sache erklären. Sie mögen skeptisch, befremdet, vielleicht sogar verständnislos reagieren, aber ich werde mein Bestes geben, es Ihnen zu erklären, und den Versuch unternehmen, Sie zu begeistern.

Fühlen Sie nicht auch die Last der fleischlichen Beschränktheit?

Aller irdischer Geist ist an die Begrenztheit seiner schwächlichen Körperlichkeit gefesselt. Die Gewichtigkeit der Materie behindert den freien Geist in seiner ungehemmten Entfaltung und schränkt ihn ein, in seinem Drang die Grenzen physikalischer Hindernisse zu überwinden. Nach der Feststellung jener unbefriedigenden Sachlage artikuliert sich der Wunsch nach einer Befreiung des Geistes und seiner Emanzipation von der Schwere des Fleisches.

An dieser Stelle möchten wir Ihnen unser Produkt vorstellen.

Sie mögen sagen, das Problem ist altbekannt, doch nicht zu lösen. Oder gar es handelt sich um eine Ur-Eigenschaft des menschlichen Seins, welche untrennbar mit der Eigenart des Menschseins verknüpft ist, folglich deren Lösung den Menschen seiner Menschlichkeit beraubte? In diesem Sinne mögen Sie vielleicht sogar sagen, das System von Geist und Körper ist gar kein Problem?

Lassen Sie mich trotzdem auf unser Modell eingehen und Sie von unserem revolutionären Konzept überzeugen. Ich verspreche Ihnen, am Ende meines Vortrages werden Sie diesen Raum inspiriert, mit erweitertem Horizont verlassen. Lassen Sie mich Sie einführen in die Welt des Digital Headings.

Das Problem wurde analysiert und die Lösung ist technischer Natur.

Bei der Geschichte der technologischen Entwicklung handelt es sich zu großen Teilen um einen fortschreitenden Prozess, der Abspaltung des omnipotenten Geistes von seinem trägen Körper. Ich denke dabei sowohl an frühe und moderne Kommunikationsmedien wie Buchdruck, Telegraphen oder das Internet, sowie an mechanische Erfindungen wie das Rad, das Automobil und dergleichen. Alle jene Errungenschaften dienen der Beschleunigung des menschlichen Geistes und die Menschheit hat auf diesem Wege bereits große Erfolge verzeichnet.

Nun ist es an der Zeit mit unserer bahnbrechenden Digital Heading Technologie den letzten Schritt auf diesem Weg zu beschreiten und damit eine neue Ära des freien Geistes einzuleiten.

Das Schlüsselwort ist „Nano-Quanten-Transporting“.

Hinter diesem Terminus Technicus verbirgt sich das Ergebnis Jahrzehnte langer, wissenschaftlicher Laborforschung und es handelt sich grob gesagt, um die digitalisierte, delokalisierte Komplettierung organischer Systeme.

Mit Hilfe von technischen Schnittstellen werden die organischen Funktionskreisläufe, wie beispielsweise der Blutkreislauf oder die Nervenströme in eine Art Nano-Quanten-„Code“ transformiert, also in frei übertragbare digitale Information umgewandelt und so die freie Demontage des menschlichen Organismus ermöglicht.

Die Möglichkeiten sind grenzenlos!

Durch einen kleinen chirurgischen Eingriff befreien wir Sie von der Last Ihres Körpers. Unter Vollnarkose werden mit Hilfe von vollautomatisierten Präzisionslasern die Verbindungen zwischen Kopf und Körper durchtrennt und die technischen Schnittstellen mit unserer NQT Technologie implantiert, konfiguriert und initialisiert.

Wenn Sie aus der Narkose erwachen eröffnet sich Ihnen eine neue Welt.

Stellen Sie sich nun folgende praktischen Anwendungsszenarien vor: Der Rasen muss gemäht, das Geschirr abgespült und das Baby gewickelt werden. Sie würden allerdings viel lieber Ihre E-Mails abrufen, Ihren Community-Status aktualisieren oder Ihr Lieblings Online-Rollenspiel starten? Mit DIGITAL HEADING müssen Sie sich nicht mehr entscheiden, Sie können alles tun.

Überlassen Sie die lästige Hausarbeit doch einfach Ihrem Körper.

Mit Hilfe Ihres Körpers platzieren Sie Ihren Kopf auf den im Paketumfang enthalten HeadHUB, welcher per USB Steckverbindung mit Ihrem Computer verbunden ist. Modernste Sensoren lassen Sie nun Ihren Computer allein mit der Kraft Ihrer Gedanken bedienen, ohne antike Bedienelemente, wie Maus oder Tastatur. Ihren Körper schicken Sie los, die unliebsame körperliche Arbeit zu verrichten. Totale Kontrolle via NQT Technologie.

Wie Sie sehen sind praktischer Nutzen und Zeitersparnis grandios und entkräften jegliche Kritik.

Oder stellen Sie sich vor, während Sie im Büro arbeiten, arbeitet Ihr Körper zuhause im Garten. So bleibt er gesund und braungebrannt und der heimische Garten kann sich wieder sehen lassen. Oder Sie schicken Ihren Körper zur Arbeit in einen Zweitjob – und verdienen doppelt!

DIGITAL HEADING ist die Technologie der Zukunft. Vielleicht verdient Ihr Nachbar mehr, weil er sich bereits für unser Produkt entschieden hat. Verpassen Sie nicht die Gelegenheit und profitieren Sie, als einer der Ersten!

DIGITAL HEADING – Maximierte Effizienz, durch Arbeitsteilung.

Nun am Ende meines Vortrags hoffe ich natürlich ich konnte Sie überzeugen und für unser Produkt gewinnen. Sehen Sie die Chancen die Ich in dieser Technologie sehe. Verstehen sie die unglaublichen Möglichkeiten die sich auftun. Erleben Sie die Zukunft im 21.Jahrhundert.

D I G I T A L H E A D I N G

Aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit haben wir leider kein Zeitfenster übrig für Rückfragen Ihrerseits. Wenn Sie Fragen haben, dann lesen Sie unsere Broschüre, besuchen Sie unsere Internetseite oder nehmen Sie an einem der zukünftigen Vortragstermine teil.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Applaus)

 

Herr K. konnte sich an jedes Wort erinnern. Die Stimmung im Saal war phantastisch gewesen. Begeistert hatten er und die anderen Zuhörer dem Referenten zugehört und als er seinen Vortrag beendet hatte, war er unter tosendem Applaus von der Bühne gegangen.

Beflügelt von der Euphorie im Raum hatte er sich gleich zu einer Operation gemeldet. Er kannte das Problem des beschränkten Geistes zu gut und war es Leid. Das Konzept schien die Antwort auf die Probleme seiner Zeit und verkündete den Aufbruch zu einer besseren Zukunft. Herr K. folgte dem Ruf.

Nun saß er da und hatte tiefe Trauer in den Augen.

Wo war der Fehler gelegen? Er wusste es nicht, er hatte das Handbuch nicht gelesen. Aber vermutlich war auch im Handbuch nichts dazu zu finden. Viel musste man nicht wissen, es war alles einfach. Benutzerfreundlich, Plug & Play, Keiner liest Handbücher.

Aber irgendwas funktionierte nicht. Sein Körper saß auf dem Bett und sah ihn kopflos an. Herr K. konnte ihn sehen, aber er spürte ihn nicht mehr, wie es die DH Technologie ihm doch ermöglichen sollte. Was hatte er falsch gemacht? Er wusste es nicht.

Herr K. sah sich selbst sitzen. Sein Körper saß am anderen Ende des kleinen, dunklen Zimmers auf dem Bett, während er, also sein Kopf, auf dem Tisch vor dem Computer lag. Jegliche Verbindung schien gekappt. Er konzentrierte sich, unternahm ein weiteres Mal den Versuch seinen Gliedern zu befehlen, doch vergebens. Keine Reaktion, nur der traurige, kopflose Blick. Hängende Arme, leere Hülle.

Es musste etwas schief gegangen sein, als er andocken wollte. Er, oder besser sein Körper, war vermutlich über irgendetwas gestolpert, als er gerade behutsam den Kopf auf den HUB legen wollte, hatte das Gleichgewicht verloren und das Unglück geschah.

Es hatte einen lauten, dumpfen Schlag getan, dass ihm der Kopf schwirrte. Der Aufprall hatte genau die Schnittstelle seiner NQT Mechanik getroffen, seine Neurotransmitter hatten einen kurzen Moment verrück gespielt, danach war es still. Es war kurz so gewesen, als könne Herr K. jede einzelne Zelle seines Körpers so deutlich fühlen, wie niemals zuvor. Danach spürte er nichts mehr.

Perplex musste er daraufhin mit ansehen, wie sein Körper scheinbar unter Schock, alter Gewohnheit folgend, aufstand, komischerweise einen kurzen Moment wirkte, als würde er sich im Zimmer umsehen, und dann zum Bett ging, wo er sich setzte. „Konditionierte Mechanismen“ vermutete der Kopf von Herrn. K, während er sich dem Ernst der Lage scheinbar noch nicht bewusst war.

Die NQT Technologie ermöglichte nicht nur die Befehligung des eigenen Körpers, sie verband Herrn K. auch mit seinen lebensnotwendigen Organen. Alles wurde in Code umgewandelt, digitalisiert, und dann transferiert. Da er immer noch lebte und sich darüber Gedanken machte, konnte die Verbindung nicht komplett abgerissen sein. Ganz ohne atmende Lungen, ein schlagendes Herz, einen Puls, ohne Blutzirkulation wäre er wohl schon nicht mehr bei Bewusstsein. Er wäre längst nicht mehr am Leben. Er wäre tot.

Aber wenn die Schnittstellen beschädigt waren, wie lang würden sie noch funktionieren?

Herr K. befand sich in der traurigen Situation eines vollkommen hilflos Wartenden. Er wartete auf sein Ende. Krampfhaft sann er nach einer Lösung, einem Ausweg. Was sollte er tun? Faktisch gab es nichts das er hätte tun können. Denken und Warten, darauf war sein Handlungsspektrum reduziert worden. So wartete er und dachte.

Was nutzt der unartikulierte Gedanke?

Herrn K.’s kopfloser Körper blickte melancholisch vom Bett herüber. Er schloss die Augen und eine Träne rann über seine Wange. Er konnte sein Gesicht bewegen. Die Erkenntnis traff ihn, wie ein Schlag. Lange hatte er nicht gesprochen, doch jetzt war die Zeit gekommen seine Stimme zu erheben und er setzte zu einem lauten, verzweifelten Hilferuf an: “HHHIIILLLFFFF…“.

Niemand hatte seinen halben Hilferuf gehört. Niemand war nahe genug gewesen, um mitzubekommen, wie sein Schrei noch vor der zweiten Silbe verendete. Die Anstrengung musste dem NQT den Rest gegeben haben. Zuviel Information, zuviel Anspannung für ein beschädigtes Gerät. Das Signal versiegte und Herr K. war tot.

 

(Stille)

 

Mann in Appartement leblos aufgefunden

In der Nacht zum vergangen Dienstag wurde der Leichnam eines Mannes in seinem Zimmer von Beamten der Polizei aufgefunden. Nachdem der Mann offensichtlich seiner Arbeit nicht mehr nachgegangen und auch nicht erreichbar gewesen war, hatte sein Arbeitgeber die Polizei verständigt. Nach ergebnislosem Klingeln und Rufen hatten sich die Beamten gewaltsam Zugang zur Wohnung verschafft und dort den bereits Tage zuvor Verstorbenen, in seinem Arbeitszimmer vor seinem Computer aufgefunden.

Mit Ausnahme kleinerer Schürfwunden wurden keine äußeren Verletzungen festgestellt, so dass ein Gewaltverbrechen vermutlich ausgeschlossen werden kann. Klarheit über die Todesursache soll eine medizinische Untersuchung des Leichnams bringen. Die Ermittlungen dauern an.

 

(work comes out of work, 2009)

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